Sonntag, 15. Juli 2012

Diffusion der Verantwortung im Fußball

Mal etwas anderes: Fußball

Seitdem es fünf Schiedsrichter gibt, statt der bisherigen drei, hat man das Gefühl es gäbe mehr statt weniger Fehlentscheidungen als zuvor. Ein Paradoxon? Da sämmelt ein Ramos seinen Gegenspieler zwei Meter vor dem Torschiedsrichter im 16-Meter-Raum um, und der Pfiff bleibt aus. Es fällt ein Wembley-Tor für die Engländer und die Schiedsrichter blicken sich bloß unsicher an. Wie kann es sein, dass jetzt vier Augen mehr auf das Geschehen blicken und dennoch weniger sehen?
Was hier passiert ist, nennt sich in der Psychologie Diffusion der Verantwortung. Sie kann in vielen Bereichen des Lebens beobachtet werden, jedoch hat bisher niemand davon bei der Einführung des Torschiedsrichters gesprochen. Diese Position auf dem Feld ist so nutzlos, dass die Person, die sie besetzt, fast das gesamte Spiel nichts zu tun hat und somit automatisch in der Rangordnung in dem Schiedsrichter-Team ganz unten angesiedelt ist. Plötzlich soll er jedoch Spiel-entscheidende Situationen bewerten, denn dafür wurde seine Position schließlich geschaffen. Er soll besser erkennen können, was im 16-Meter-Raum passiert und dementsprechend reagieren. Er schaut jedoch unsicher zu den Kollegen, und wenn diese nichts anzeigen, traut auch er sich nicht die Flagge zu heben. Er, der gerade 25 Minuten lang beschäftigungslos an der Linie des überlegenen Teams stand, soll plötzlich hellwach sein, und durch seine Reaktion das Spiel wesentlich mitentscheiden. Der Spielleiter auf dem Platz vertraut auf seinen Kollegen an der Linie, denn warum sollte er ein Tor pfeifen, wenn jemand, der 20 Meter näher am Tor steht, dieses nicht anzeigt? So wie bei fünf Kumpels die sich nicht entscheiden können, in welche Kneipe sie gehen, verteilt sich die Verantwortung bei den Schiedsrichtern auch auf fünf Köpfe und führt dazu, dass Entscheidungen schwerer Fallen als zuvor. Da diese beim Fußball in kürzester Zeit gefällt werden, fallen sie manchmal einfach aus - man hört keinen Pfiff.

Dies ist kein Plädoyer für die Torkamera oder den Chip im Ball. Das lustigste am Fußball ist die Ernsthaftigkeit mit der die Verantwortlichen an dieses Hobby herangehen, weil es um so viel Geld geht. Eine oft wenig gebildete Horde rennt einer Kugel hinterher und danach schreiben Zeitungen, Online-Nachrichten oder Blogger darüber. Ein Milliardengeschäft ohne Sinn und Verstand, das von alten Männern kritisch analysiert und kommentiert wird. Gerade bei Schiedsrichter-Fehlentscheidungen laufen die grauen Herren zu Topform aus. Man sitzt vor dem Fernseher oder ließt die Kommentare und kann sich wesentlich mehr amüsieren als bei der Lektüre einer Satirezeitschrift. Auch darum geht es beim Fußball und so würde ein Chip im Ball dem Fußball etwas rauben: Die Fehlbarkeit des Menschen, und die anschließenden, belustigenden, glasklaren Analysen und Diskussionen.

Natürlich möchte man, dass ein Team nicht bestraft wird, dadurch, dass eine Fehlentscheidung getroffen wird. Deswegen ist mein Appel jener, die zwei zusätzlichen Schiedsrichter an der Torauslinie abzuschaffen. Dies wird natürlich nicht geschehen, denn dies passt nicht in die Logik des Fußballs. Mehr ist immer besser... Andererseits kann es auch so lustig werden. Ich freue ich mich jedenfalls auf die Diskussion, die ausgelöst werden wird, wenn die technologische Lösung irgendwann versagt und der Chip nicht sendet, obwohl ein Tor gefallen ist.